Die Mikrobiologie der Zukunft? 7 kritische Gedanken zu “Charité – Staffel 4”

Charité Staffel 4 im Jahr 2049. Die Mikrobiologie der Zukunft ist wichtig. Richtig wichtig. Doch wie wahrscheinlich ist das dargestellte Szenario der mikrobiologischen Forschung in 25 Jahren? 7 Gedanken zur aktuellen Staffel von “Charité” aus Sicht einer forschenden Mikrobiologin.

Zuletzt aktualisiert am 13. August 2024 von Isabell

Worüber sich Mikrobiologen freuen? Wenn der eigene Forschungsbereich gesellschaftsrelevant in einer Serie aufgegriffen wird: Die Mikrobiologie der Zukunft, dargestellt in der vierten Staffel der ARD-Serie “Charité”.

Gesellschaftsrelevant, das ist die Mikrobiologie definitiv. Bereits in der ersten Staffel der Charité hüpfte mein kleines Forscherinnen-Herz höher. Folge um Folge fieberte ich mit Robert Koch mit, verfolfte die Anfänge der Mikrobiologie in Deutschland. Augenblicklich verglich ich die aktuelle Forschungssituation mit der damaligen. Ich stellte mir vor, wie ich (sehr unwahrscheinlich als Frau) Anfang des 20. Jahrhunderts an und mit Bakterien geforscht hätte.

“Ausgangspunkt für diese neue Staffel war die Frage, wofür jemand in der Zukunft den Nobelpreis in der medizinischen Forschung bekommen wird?”
Johanna Kraus, Fiction-Chefin MDR

In der vierten Staffel der Charité ist die Mikrobiologie wieder en vogue – genauer gesagt die Mikrobiologie der Zukunft. Und dieses Mal saß ich kritisch vor dem Fernseher und überlegte, ob die dargestellt mikrobiologische Forschung in 25 Jahren wirklich so aussehen kann?

Bist du bereit für 7 kritische Gedanken zur Mikrobiologie der Zukunft?

Hinterfragt und eingeordnet

#1 Das Labor – eine Mischung aus Heute und Morgen

Das Labor der Zukunft – hell, offen, groß. Erfreulicherweise gut von den Produzenten durchdacht ist das Labor als ein Ort dargestellt, in dem Menschen wirklich arbeiten. Hier und da stehen Utensilien herum. Pipetten sind nicht ordentlich an Ort und Stelle, sondern liegen auf dem Arbeitsplatz. Ein genutzter Tischmülleimer, Pipettenspitzen zum Nachfüllen. Und natürlich dürfen die Kolben mit bunten Farblösungen, die irgendwo platziert wurden, nicht fehlen 😉

Arbeit in der Mikrobiologie der Zukunft – ohne Kittel und Schützausrüstung Krankheitserreger erforschen? Quelle: ARD

Was gelungen ist
Das Labor wird als eine Mischung aus dem “Alten” von heute und Neuem von morgen dargestellt. Sehr wahrscheinlich werden die Geräte der Zukunft weiterentwickelt worden sein. Vermutlich werden wir aber auch noch mit Geräten arbeiten, wie wir sie heute nutzen.

Kritisch hinterfragt
Was mich stutzig werden lässt: Die Protagonistin arbeitet mit Infektionserregern, steht jedoch mit kurzer Hose (!), ohne Kittel und Handschuhe im Labor! Mit einem unbekannten Bakterium, verantwortlich für einen erkrankten Patienten, in die Charité mit schweren Symptomen eingeliefert.

Üblicherweise arbeiten wir mit solchen Keimen an sterilen Werkbänken, einer Art Glaskasten mit gefilterter Luft. Geschützt vor einer Infektion ist die Person durch eine Glasscheibe direkt vor ihrer Nase. In der Serie ist davon meiner Erinnerung nach keine Einzige zu sehen.
Womöglich gibt es zukünftig ein besonderes Raumkonzept für Labore. Eines, in dem die Raumluft speziell gefiltert wird und die dort arbeitenden Personen schützt. Erwähnt wird das nicht und ist die in der Serie dargestellte Arbeitsweise im Labor sehr fraglich.

Mikrobiologie der Zukunft? Vergleich der in der Serie dargestellten Arbeitsweise mit der tatsächlichen Situation
Links: In der Serie dargestellte Arbeit mit pathogenen Bakterien (Quelle: ARD), rechts die Arbeit in der Realität an einer Sterilwerkbank (Quelle: privat).

#2 Bakterien wachsen innerhalb von Sekunden

Patient 0 hat sich mit einem unbekannten Bakterium infiziert und liegt mit schwersten Symptomen im Koma. Nun gilt es, das Bakterium so schnell wie möglich zu identifizieren, um den Patienten zu behandeln. Wir werden mitgenommen und schauen der Protagonistin bei der Arbeit zu. Ihre Ausgangslage: Das Bakterium ist bereits auf einer Agarplatte gewachsen und jetzt soll das Bakterium einen Namen bekommen.

Diese Arbeit übernimmt ein neuartiges, kompaktes Gerät. Innerhalb von Sekunden  wird ein Profil des Bakteriums erstellt und mit einer Datenbank bereits bekannter Bakterien abgeglichen. Das Ergebnis: Das Bakterium ist nicht bekannt, die fieberhafte Suche nach dem Ursprung und dem genauen Bakterium beginnt.

Was gelungen ist
Der zukünftige Nachweis wird vermutlich schneller werden. Das liegt vermutlich an verbesserten  Technologien und einem erweiterten Wissen über Bakterien und ihren Eigenschaften. Ein rascher Vergleich mit den Eigenschaften bekannter Bakterien wird einfacher, die Geräte könnten insgesamt kleiner sein. Auch ein Kombi-Gerät, das zeitgleich mehrere Funktionen erfüllt, ist denkbar.

Kritisch hinterfragt
Ernsthaft? Kaum auf der Agarplatte ausgestrichen, ist das Bakterium in ausreichender Menge innerhalb von Sekunden gewachsen, um untersucht zu werden? Nein, das wird sehr wahrscheinlich auch nicht in Zukunft möglich sein. Denn Bakterien brauchen Zeit, um zu wachsen. 37 °C für mindestens vier Stunden sind es, um einen ersten, zarten Hauch auf der Platte zu sehen.

Cool und extrem einfach zu handhaben ist dieses Gerät definitiv. Die Auswertung und der Abgleich sehen spielend leicht aus. Wenn wir solche Geräte zukünftig haben – genial!

#3 Das Mikrobiom als wichtigster Forschungsansatz

Heute sehen wir, dass die Forschung an den Bakterien unseres Darmes, dem Mikrobiom, enorm wichtig ist. Denn die letzten 10 Jahre zeigten, dass sich unser Mikrobiom und sein Gleichgewicht auf unsere Gesundheit auswirkt. Ein gestörtes Mikrobiom führt womöglich zu Krankheiten wie Diabetes oder Alzheimer. Bildgewaltig und emotional werden wir in dieses Thema mitgenommen.

Das Mikrobiom jedes Menschen ist individuell. Für eine gute Behandlung ist es unerlässlich, dass wir das Mikrobiom des jeweiligen Patienten kennen und negative Wechselwirkungen erkennen. Quelle: ARD

Dieses wichtige Thema wird in der vierten Staffel der Charité aufgegriffen und als wichtigster Forschungsansatz dieser Zeit dargestellt. Die Protagonistin ist in diesem Bereich versiert und wird als potentielle Nobelpreisträgerin gehandelt.

Was gelungen ist
Das Mikrobiom ist vielfältig und bei jedem Menschen individuell. Wie wir leben, essen, welche Medikamente wir zu uns nehmen, all das beeinflusst unser Mikrobiom. Daher ist der Fokus der Staffel auf dem Mikrobiom mehr als verständlich. Sie spiegelt das wider, was uns derzeit beschäftigt und womöglich auch noch zukünftig wird.

Kritisch hinterfragt
Das Mikrobiom ist enorm wichtig und doch habe ich das Gefühl, dass wir nicht so viel mehr wissen. Jedenfalls habe ich keine greifbaren Ideen im Kopf, die die Serie behandelt hätte. Ein großes, drängendes Thema, mit hilfreichen Ansätzen, um jeden Patienten individuell zu behandeln, ja. Aber darüber hinaus bleibt dieses Thema in der Mikrobiologie der Zukunft sehr diffus.

#4 Personalisierte Antibiotikatherapie

Das individuelle Mikrobiom eines Patienten zu kennen, ist hilfreich, um den Patienten adäquat zu behandeln. Negative Einflüsse anderer Bakterien werden aufgedeckt, die es unter Umständen nur bei diesem Patienten gibt. Diese unerwünschten Bakterien könnten beispielsweise die Wirksamkeit von Antibiotika beeinflussen. Zusätzlich müssen wir (zeitnah) wissen, um welchen Erreger es sich handelt (siehe #2).

Was gelungen ist
Individuelle Therapien und Antibiotika für den Patienten sind möglich, wenn die alle Bakterien als Gesamtes betrachten. Der Vorteil ist hier definitiv, dass unnütze Antibiotika-Gaben unterbunden werden. Dies ist wichtig, da wir bereits heute durch den überflüssigen Einsatz von Antibiotika multiresistente Erreger sehen. Die Behandlung mit verfügbaren Antibiotika ist teilweise nicht mehr möglich.

Staffel 4 greift die multiresistenten Erreger ebenfalls auf. Sinnvoll und relevant, da wir wahrscheinlich in 25 Jahren noch keine zufriedenstellende Lösung für dieses Problem haben. Hier mit personalisierter Medizin zu antworten, ist in meinen Augen sinnvoll.

Kritisch hinterfragt
Es scheint, dass auf den Patienten angepasste Antibiotika innerhalb kürzester Zeit zur Behandlung verfügbar sind. Eine angestrebte Entwicklung, die problematisch ist: Die Entwicklung neuer Antibiotika ist heutzutage langwierig (mehr als 10 Jahre im besten Fall) und kostenintensiv. Viele Pharmaunternehmen zogen sich bereits heute aus der Entwicklung zurück. In der Serie ist das Gesundheitssystem nochmal mehr auf Profit ausgelegt.

Individuelle Antibiotika, die unmittelbar verfügbar sind – eher unwahrscheinlich.

Ich hoffe, dass wir in 25 Jahren nicht ausschließlich auf Antibiotika als unsere beste Option setzen. In der Serie wird die Phagentherapie als mögliche Alternative angerissen. Sie scheint jedoch nicht sonderlich weiterentwickelt worden zu sein.

#5 Konflikt zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Öffentlichkeit und Politik

Ein unbekanntes Bakterium infiziert einen Menschen, der daraufhin schwer erkrankt und im Koma liegt. Als ein zweiter Patient mit denselben Symptomen eingeliefert wird, ist die Sorge groß. Infiziert haben sich beide vermutlich im Meer. Um weitere Infektionen zu vermeiden, werden in einem von Hitze geplagten Deutschland Strände gesperrt. Das Baden in der Nordsee verboten.

Die Proteste nehmen zu, der Unmut der Bevölkerung gegenüber dem Gesundheitssystem und der Wissenschaft steigt.

Was gelungen ist
Der Austausch zwischen Wissenschaft und Politik und daraus abgeleiteten Empfehlungen, um die Bevölkerung zu schützen. Aber auch die sinkende Akzeptanz für die Maßnahmen, je mehr wir Menschen in unserer Freiheit eingeschränkt werden. Das Zurückrudern der Politik, wenn der öffentliche Druck zu groß wird.

Kritisch hinterfragt
Es fällt auf, dass es die Wissenschaft in 25 Jahren immer noch nicht geschafft hat, transparenter zu sein und über den Prozess und ihre Ergebnisse zu sprechen. Wissenschaftskommunikation scheint 2049 kaum ein Thema zu sein. Erkenntnisse werden mit Kollegen, nicht aber mit den Menschen, die es betrifft, ausgetauscht.

#6 Mikrobiologie der Zukunft ohne Krankenhaushygiene?

2049 in der Charité, einem weltweit renommiertem Krankenhaus mit zukunftsweisender Forschung und innovativen Behandlungsmethoden. Projektionen erleichtern Operationen, ansteckende Patienten in durchsichtigen Isolationskammern behandelt.

Kritisch hinterfragt
Viel sehen wir von der eigentlichen Behandlung nicht. Richtig ist, einer ansteckenden Erkrankung mit geeigneten Schutzmaßnahmen zu begegnen, um den behandelnden Arzt zu schützen. Was mir allgemein fehlt: Was macht die moderne Medizin darüber hinaus, um zu verhindern, dass multiresistente Keime sich ausbreiten? Gibt es neue Ansätze, Ideen, Möglichkeiten?

#7 Selbstversuch in der Wissenschaft

In der Serie infiziert sich die Protagonistin absichtlich mit dem neu entdeckten Bakterium, überzeugt von seiner heilenden Wirkung. Ihre Kollegen zweifeln diese an, sodass sie diesen radikalen Weg geht. Auch, um schneller eine Therapie für ihren Patienten zu entwickeln.

Ein umstrittenes und sehr schwieriges Thema! Selbstversuche in der Wissenschaft sind nicht erlaubt bzw. ist der werden Ergebnisse anders gewonnen: Von Experimenten in Reagenzgläsern über die Zellkultur bis hin zu Tierversuchen und ganz am Ende – bei vielversprechenden Ergebnissen – in klinischen Studien.


Kritisch hinterfragt
Selbstversuche in der Wissenschaft gab es. Das bekannteste Beispiel ist das Bakterium Helicobacter pylori. Der australische Wissenschaftler Barry Marshall war überzeugt, dass dieses Bakterium Magengeschwüre verursacht. Die wissenschaftliche Welt glaubte ihm nicht. Also infizierte er sich selbst – er entwickelte Magengeschwüre, die nach einer antibiotischen Behandlung wieder verschwanden.

Auch wenn die auch in der Vergangenheit wichtige Erkenntnisse über Selbstversuche gewonnen wurde, ist dieses Vorgehen sehr fragwürdig.

Sieht so die Forschung in der Mikrobiologie der Zukunft aus? Dieses Bild wurde mit KI erstellt.

Meine persönliche Einschätzung

Zunächst vorweg: Ich habe mich unglaublich gefreut, dass nach der ersten Staffel der Charité die Bakterien erneut aufgegriffen wurden. Damals wie heute und vermutlich auch zukünftig wird das Zusammenspiel mit den Bakterien enorm wichtig sein. Ein aktuelles Thema. Diese vierte Staffel der Charité ist gelungen – auch wenn meine folgenden Punkte aus Sicht einer aktuell Forschenden anderes vermuten lassen. 

Trotz der guten Ansätze habe ich als Mikrobiologin das Gefühl, dass sich zu sehr auf die aktuellen Probleme fokussiert wurde. Und zu wenig mögliche Entwicklungen, Innovationen und Ideen mitgedacht wurden. Es ist kaum möglich, dass eine Serie alle Aspekte detailliert darstellt. Vordergründig geht es um die Medizin der Zukunft. Die Mikrobiologie der Zukunft ist da nur ein kleiner Teil.

Dennoch hätte mir gewünscht, dass mehr innovative Ideen und Spekulation gewagt worden wäre. Dass neben dem Mikrobiom, der Bedrohung von “neuartigen” Bakterien aus dem auftauenden Permafrost und der Antibiotika-Therapie weitere Themen, zumindest als vage Idee, behandelt werden:

  • Wie hat sich die Situation mit multiresistenten Keimen entwickelt? Scheinbar haben wir außer (personalisierte) Antibiotika, der Phagentherapie und möglichen Wunder-Bakterien keine weiteren Behandlungen.
  • Haben wir derzeitige Entscheidungen hinsichtlich Empfehlungen bei Impfungen, der Behandlung von bakteriellen Infektionen und der Krankenhaushygiene erneut hinterfragt und angepasst?
  • Wie hat sich die Mikrobiomforschung weiterentwickelt? Die Ansätze der Serie sind die aktuellen und kaum weitergesponnen.
  • Wie sieht die Mikrobiologie der Zukunft aus: Sind die Ergebnisse der Forschung noch enger mit dem Krankenhausbett verwoben (Translationale Forschung)? Es wird zwar mit dem fraglichen Selbstversuch angedeutet. Vielmehr ist hier aber nach wie vor der Konflikt zwischen Wissenschaftlern und weniger das gemeinsame Erarbeiten im Fokus.
  • Ist die Wissenschaftskommunikation auch in 25 Jahren noch dort, wo wir uns heute befinden?

Im Hinblick auf die Kommentare von Zuschauern in der ARD Mediathek zeigen sich zwei weitere wichtige Punkte:

  1. Eventuell wäre ein Virus-bezogenes Thema dringender gewesen, um die Fragen der Wissenschaft und die zukunftsweisende Behandlung zu adressieren (und aufzuarbeiten).
  2. Die Gefahr durch resistente Bakterien und die schwierige Behandlung ist zu wenig im Alltag angekommen. Oder falsch thematisiert?

Persönlich finde ich die neue Staffel der Charité sehr gelungen. Ich mag die kritische, groß gedachte Auseinandersetzung mit aktuellen und zukünftigen Problemen und besonders dem Gesundheitssystem. Ja, im Vergleich zu den bisherigen Staffeln ist diese ein Kontrast, an den sich der Zuschauer erst gewöhnen muss.

Es ist schon fast schade, dass diese kritische Auseinandersetzung nur in der Serie, nicht aber mit dem Publikum stattfindet. Vielleicht wäre diese Serie eine Möglichkeit gewesen, eine größere Möglichkeit zu eröffnen, um die in der Serie behandelten Themen mit den Zuschauern im Austausch zu diskutieren.

Wer also keine Angst hat, sich auf Neues einzulassen und sich mit den Problemen der Zukunft zu beschäftigen, der sollte sich unbedingt “Charité – Staffel 4” anschauen.

Quellen

ARD-Serie “Die Charité

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